
Aus einer Zeit, wo der Ruhrpott noch voller Asche hing. In den 60ern zogen sich Zechen mit Ihren Fördertürmen und Stahlwerke mit hohen Schornsteinen durch das Landschaftsbild. Kinder genossen eine ganz besondere Freiheit.
Verglichen mit heute aber auch eine schwierige Zeit. Kein Luxus, kein Internet, kein Handy. Dafür aber jede Menge Platz für Kreativität und Phantasie.
Ein Gastbeitrag von Harry M.- Vielen Dank
Routinierter Tagesbeginn
Geht man von einem Kindesalter von ca. 3 Jahren aus, kann man davon ausgehen, dass hier eine bewusste Wahrnehmung der Umwelt einsetzt und sich im Gedächtnis auch einbrennt und somit auf Lebenszeit unauslöschlich wird. Meine eigene sehr bewusste Zeit und Erinnerungen starten daher erst von einem Zeitpunkt, wo ich mich selbst schon anziehen konnte, aber noch nicht in der Lage war meine Schnürsenkel zu binden, das musste immer noch Mutter übernehmen.
Der Tagesablauf begann immer gleich, nach dem Aufstehen erst einmal Zähne putzen, mit einem Waschlappen und kaltem Wasser eine „Katzenwäsche“ durchführen. Natürlich im Bad, in dem es kein fließendes Warmwasser gab. Das war ein Luxus und gab es nur jeden Samstag, wenn der Badeofen spätnachmittags mit Kohle angeheizt wurde, denn samstags war Badetag für alle.
In der Woche musste man also mit dem kalten Waschlappen durchs Gesicht. Nach dem Anziehen bekam man Frühstück, natürlich ohne Nutella, gab es da noch nicht oder erst so gegen Ende der Sechziger. Standard war Margarinebrot, mit einem Löffel Zucker bestreut, oder ein Käsebrot. Dazu gab es ein Glas Milch, die immer alle zwei Tage vom Milchmann in Flaschen vor unserer Wohnungstür im Treppenhaus abgestellt wurden. Die Milch war, natürlich nicht homogenisiert und hielt sich ohne Kühlschrank auch nicht lange, nach drei Tagen hatte man Sauermilch und auf der Oberfläche schwamm eine Haut. Der Fettgehalt der Milch war sehr hoch und die Flaschen hatten auch nur einen Verschluss aus Alufolie entweder silber- oder goldfarben.
Beim Frühstück war der Vater nicht dabei, der war schon längst auf „Schicht“ oder war gerade „Voneschicht“ gekommen und schlief. Die Schicht war entweder „Aufehütte“ oder „Impütt“. Die „Hütte“ war eben ein Stahlwerk und der „Pütt“ unter Tage im Kohlebergwerk. Da in beiden Gewerken 24 Stunden rund um die Uhr gearbeitet wird, gab es eben die Früh-, Mittags- Spät- und Nachtschicht.
Dementsprechend mussten wir uns als Kinder auch entsprechend der Schichten verhalten. Also war Nachtschicht angesagt, war nichts mit Spielen und Herumtoben in der Wohnung.
Die Straße als Abenteuerspielplatz
Egal wie das Wetter war, man ging sowieso lieber raus auf die Straße. Mutter hat aufgepasst, dass wir passend der Witterung angezogen sind und uns nach draußen entlassen.
Helikoptereltern, den Begriff gab es nicht. Früh wurde uns gezeigt, wie wir uns in dem Straßendschungel zu verhalten haben: „Hömma, pass ja auf, wenne üba de Straße gehn wills, guck zweima rechts und links, ob da nichn Auto kommt!“ Der Personenwagenverkehr war aus heutiger Sicht noch überschaubar, aber die Straße, in der wir wohnten, war Hauptzufahrtsstraße zu einer Sinteranlage, die damals recht intensiv von schweren LKWs befahren wurde. In der Sinteranlange wurde die Schlacke, aus dem dazugehörigem Hüttenwerk in Meiderich verarbeitet. Die glühende Schlacke wurde Tag und Nacht von einer Werksbahn zu einem „Schlackeberg“ gefahren und zwischengelagert.
Aus unserer Wohnung hatte ich einen direkten Blick auf diesen Berg und nachts wurde es manchmal taghell, wenn neue, glühende Schlacke ausgekippt wurde. Das damalige Hüttenwerk ist heute der „Landschaftspark Nord“ in Duisburg und der Schornstein von der Sinteranlage, der immer Wegweiser zu meinem zu Hause war, ist mittlerweile abgetragen.
Mit der Gefahr der riesigen LKWs waren wir „Blagen“ vertraut, man hörte sie ja auch rechtzeitig, die alten Büssing Langschnauzer und Rundhauben von Deutz, die irrsinnig laut heulten mit ihren luftgekühlten Motoren.
Wir waren es gewohnt und die Straße war unser Abenteuerspielplatz. Noch weit bis Mitte der 60er Jahre gab es Baulücken, meist Ruinengrundstücke, Überbleibsel des 2. Weltkriegs auf denen wir Kinder uns austobten. Niemand kontrollierte uns, niemand nahm Anstoß daran, dass wir uns frei und unbeaufsichtigt dort austobten, nach verborgenen Schätzen suchten und unserer Fantasie freien Lauf ließen. Schätze suchen war immer etwas Besonderes und oft wurden wir auch fündig!
Der Klüngelskerl
Schätze waren Schrott, also Metall den man beim „Klüngelskerl“ zu bare Münze machen konnte. Der „Klüngelskerl“ war im Ruhrpott nichts anderes als ein Schrott- und Lumpensammler, ja richtig, er hat auch Lumpen, also alte Kleidung angenommen, die wieder verwertet wurden. Stahl und Eisen waren aber besonders begehrt. Und so ging so manches Stück auf die Waage und wir bekamen ein paar Groschen dafür und konnten uns was zum „Schnuppen“ an der Trinkhalle kaufen. Kein Mensch hat nachgefragt, woher wir „Blagen“ denn die 50 Pfennig herhaben.
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Mike N. (Montag, 22 November 2021 23:16)
Auch wenn ich es persönlich etwas anders kennen gelernt habe, kann ich es genau nachvollziehen. Bin Jahrgang 65. und in Gelsenkirchen aufgewachsen.
Miriam (Sonntag, 26 Dezember 2021 12:03)
Die Straße als Abenteuerspielplatz. Das kenne ich auch noch. Gruselig wurde es wenn wir in verlassene Häuser gegangen sind. Dieser Geruch liegt mir heute noch in der Nase. ABER: wir haben nichts zerstört und nicht mit Farbe vollgeschmiert und es gibt keine Filmaufnahmen davon die auf sozialen Netzwerken gepostet wurden. Gott sei dank. Vielen Dank Herr Harry M. Vielleicht schreibe ich hier ja auch mal eine Geschichte.
Hannes (Mittwoch, 23 März 2022 22:33)
Klüngelskerl gibt's heute noch. Wenigstens hier im Pott.
Hannelore (Dienstag, 12 April 2022 22:45)
Vielleicht mussten wir auf einiges Materielle verzichten aber wir waren frei und unbeschwert. Das Ruhrgebiet in den 60ern- ein riesiger Spielplatz für Kinder.
Mimmi (Sonntag, 23 Oktober 2022 14:17)
Oh, da kommen einige Erinnerungen hoch. Nur die Luftverschmutzung damals war nicht schön. Weiße Wäsche aufhängen war an manchen Tagen gar nicht möglich und auch die Fenster waren voller Ruß und Staub.