
Ich bin in einem kleinen Vorort (damals 2700 EW) einer Großstadt im Rhein-Main-Gebiet aufgewachsen. Der Krieg war noch nicht allzu lange vorbei. Und überall gab's Straßenbauarbeiten. Presslufthämmer, Dampframmen und Dampfwalzen waren allgegenwärtig. Der heiße Teer war überall zu riechen, und man mußte aufpassen, wohin man trat.
Auch waren noch nicht alle Grundstücke an das Kanalnetz angeschlossen, so daß regelmäßig der Puddelwagen kommen mußte und das Abwasser abholte - mit den entsprechenden Geruchsbelästigungen. Man konnte von außen beobachten, wenn meine Nachbarin ihr Geschirr abwusch. Unter ihrem Küchenfenster kam ein Rohr aus dem Haus, aus dem das Wasser die Straße runter seinen Weg zum nächsten Kanaldeckel suchte.
Auch war damals der Ort noch sehr ländlich. Sicher, Wald und Wiesen sind auch heute noch vorhanden. Aber zu der Zeit gab es hier auch noch jede Menge Bauern mitten im Ort, die ihre außerhalb der bebauten Flächen gelegenen Felder bewirtschafteten. Die meisten hatten auch Kühe, die durch's Dorf getrieben wurden. Und die hörte und roch man weit!
Auch die "normale" Bevölkerung hatte Viehzeug. Die Hühner liefen quer über die Straße. Drei Häuser neben uns lebte eine Familie, die Vögel züchtete. Der eine Bruder hatte sich auf Tauben spezialisiert, der andere auf Singvögel.
Auch gab es viele Kleintierzüchter. Bei uns gab es Weihnachten jedenfalls immer Hasenbraten. Das Kaninchen durfte ich beim Züchter selbst abholen.
Heute sind die Straßen einigermaßen in Ordnung. Bauern gibt's keine mehr, auch wenn die Familien noch diverse Ackerflächen besitzen. Der Kleintierzuchtverein hat sich letztes Jahr aufgelöst, weil man keinen neuen Vorsitzenden fand. Und das Kanalnetz ist so gut ausgebaut, daß wir 2014 - nach mehreren kleinen - ein Jahrhundert-Hochwasser hatten, das sogar durch die Medien ging.
Vielen Dank liebe Dagmar, dass Du diese Erinnerung mit uns teilst.
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Harry Marquardt (Freitag, 19 Mai 2023 23:29)
Beim Lesen deiner Erinnerungen stiegen mir wieder sämtliche Geruchs Erlebnisse meiner Kindheit in den Sinn, nein es waren nicht die ländlich geprägten Gerüche, sondern die einer Großstadt im damals "dunkelstem" Ruhrgebiet.
Aufgewachsen in der Stadt mit dem größten Binnenhafen Europas hatte ich in meiner Kindheit ein Stahlwerk in der Nachbarschaft, das nennt sich heute ganz profan und unbekümmert "Landschaftspark". Aktive Hochöfen, Eisenhütten und Walzwerke verwandelten Eisenerz zu Stahl und das war nicht nur überall zu riechen sondern auch als rötlicher Staub zu sehen.
Mit elf Jahren zog ich von NRW mit meinen Eltern nach Schleswig Holstein und lernte dort ander Gerüche kennen: Frischen Grasschnitt von der Wiese, Heu machen, Gülle ausbringen und plötzlich waren die Gerüche nicht mehr nach Schwefel oder Koks riechend! Es roch nach natürlichem Leben.
Wenn ich heute meine Heimatstadt besuche ist sie sehr grün und sauber aber auch absolut tot.
Ich bin froh, dass ich meinen Lebensabend hier auf dem Lande in Schleswig-Holstein verbringen darf, trotz manchmaler Geruchsbelästigung im Frühjahr.