
In die Stadt fuhr man in meiner Kindheit nur selten. Vielleicht einmal im Monat, wenn man etwas Spezielles brauchte, was es in den vielen Geschäften im Ort nicht gab. Oder zum Spaß. Sonntags machten wir manchmal einen Spaziergang in die Innenstadt, schauten ein paar Schaufenster an, manchmal gab's ein Eis, und dann ging's mit dem Bus zurück nach Hause.
Ich bin in einem kleinen Vorort (damals 2700 EW) einer Großstadt (damals 270.000 EW) aufgewachsen. Trotz der Nähe zum urbanen Leben war unser Dorf sehr ländlich geprägt. Viel Natur - Wiesen, Felder und Wälder, wo man spazierengehen, aber auch prima spielen konnte. Ein Großteil der Flächen wurde aber landwirtschaftlich genutzt. So konnte man außer in den unzähligen Läden vieles direkt vom Bauernhof kaufen. Milch, Eier, Wurst. Im Herbst lieferten die Bauern Äpfel und Kartoffeln säckeweise zum Einkellern. Es müssen damals viele Landwirte gewesen sein, teils mit Viehhaltung. Ich erinnere mich, daß es dann in den 80ern "nur noch" 12 Bauern waren. Heute sind längst alle Scheunen und Ställe durch Wohnhäuser ersetzt.
Auch die "normalen" Leute besaßen häufig einen Nutzgarten. Zum Teil direkt am Haus, aber es gab auch weiter draußen mehrere größere Gelände, die in Parzellen aufgeteilt waren. Die waren im Krieg lebensnotwendig und wurden auch weiterhin gepflegt und eifrig genutzt. Heute dienen die meisten Gärten nur noch als Zeitvertreib und sind mit Schaukel oder Trampolin ausgestattet. Sieht irgendwie trostlos aus, wenn man beim Spaziergang daran vorbeigeht. Auch gab's viele Streuobstwiesen, die heute oft vernachlässigt werden. Die Alten sterben und die Kinder wollen sich die Arbeit nicht aufhalsen. Und einige Leute hielten sich damals Hühner oder Bienen. Viele waren im Kleintierzuchtverein. Von dort bekamen wir meist unseren Weihnachtsbraten.
Außerdem kamen in den späten 60ern und 70ern einige fahrende Bauern durch's Dorf. Sie hielten einfach irgendwo am Straßenrand und ließen ihre große Schelle erklingen. Zu Anfang boten sie nur Kartoffeln an, dann mit der Zeit auch andere Eigenerzeugnisse wie Salate und Äpfel. Das Sortiment wurde entsprechend ausgeweitet, als die ansässigen Bauern und Geschäfte nach und nach aufgaben. Heute ist wegen des großen Verkehrsaufkommens ein spontanes Halten nicht mehr möglich.
Als Kind hatte ich die Qual der Wahl, wo ich einkaufen ging. In einem so kleinen Ort gab es 3 Bäcker, 3 Metzger sowie eine Verkaufsstelle eines weiteren Metzgers aus dem Nachbarort. Es gab 3 größere Lebensmittelgeschäfte und viele kleinere und ganz kleine. Einige Läden verkauften nur spezielle Dinge - nur Gemüse oder nur Milchprodukte. Sogar einen kleinen Textilladen hatten wir (mit Änderungsschneiderei und Reinigungsannahme), einen Schreibwarenladen, zwei Elektroläden (einer davon mit Haushalts- und Eisenwaren) und zwei Schuhmacher und zwei Schreinereien.
Es gab einen Herrenfriseur, da gingen auch die Kinder hin. Die Damen mußten sich in die Stadt bemühen - oder machten sich die Haare gegenseitig. In den 80ern hatten wir sogar zwei Salons für Damen und Herren. Die sind aber mittlerweile auch wieder verschwunden.
Das obligatorische Postamt war vorhanden und ein kleines Gemeindebüro (Meldebehörde) mit angeschlossenem Polizeirevier, welches aber nur aus einem einzigen Wachtmeister bestand. Eine Arzt- und zwei Zahnarztpraxen gab es. Ein Einwohner besaß eine Apotheke in der Stadt; der brachte die Medikamente am Abend mit und ließ sie durch den Opa ausliefern. Dieser freute sich, unter Leute zu kommen.
Die Sparkassenfiliale befand sich im Wohnzimmer einer älteren Dame. Da konnte man tagsüber, aber auch abends hingehen. Sicherheit war damals noch nicht so wichtig, da die Dorfbewohner wohl durch und durch ehrlich waren. Die Raiffeisenkasse schickte zuerst zweimal die Woche einen Bus, dann wurde in einem Haus eine kleine Filiale eingerichtet mit angeschlossenem Verkauf von Blumenerde, Saatgut und Viehfutter.
Vor dem Krieg war unser Ort die "Waschküche" der Stadt gewesen. Es gab zwei Großwäschereien, einige mittlere Betriebe und jede Menge Privatleute, die für die Städter die Wäsche erledigten oder bügelten. In den 60ern waren noch die beiden großen Betriebe übrig geblieben. Aber 1970 waren auch sie verschwunden.
Von der Geschäftsvielfalt hat einzig der Haushalts- und Eisenwarenladen überlebt. Allerdings ohne braune und weiße Ware, die ein Radio- und Fernsehtechniker übernommen hat. Dafür wurde eine Postfiliale integriert und zuletzt noch die Waren aus dem alten Zeitschriftenladen. Außerdem existiert noch der Laden eines der drei Bäcker, in dem immer wieder mal die eine oder andere Bäckerei-Kette ihr Glück versucht.
Wir hatten früher 5 Lokale im Ort mit gut bürgerlicher Küche, geführt von alteingesessenen Familien. Jedes hatte einen Stammtisch und einen abgetrennten Saal, wo Hochzeiten, Konfirmationen, Trauerfeiern, Weihnachtsfeiern und Vereinssitzungen abgehalten wurden, sowie einen großen Hof, der gerne genutzt wurde. Man konnte trinken, essen, Karten spielen, ein Spielautomat war vorhanden. Wie es sich für eine ordentliche Wirtschaft gehört. Heute existieren noch drei davon, aber nur eine wird auf herkömmliche Weise geführt. Eine ist eher eine Szenekneipe, die andere ein Ristorante, also eher ein Bistro.
Die alten Lokale haben noch "über die Straße" verkauft. Bei dem früheren strengen Ladenschlussgesetz hat man das gerne genutzt, konnte sich eine Flasche Bier oder Limo, ein paar Chips oder Erdnüsse holen. Und am Sonntag nach dem Essen ein Eis. Die meisten hatten zwar mittlerweile einen Kühlschrank, aber meist nur mit einem 1- oder 2-Sterne-Fach. Das war zum Gefrieren nicht geeignet. Außerdem gab es in den Traditionskneipen regelmäßig Schlachtfeste, die sehr beliebt waren. Da hatten nicht alle Platz, aber man konnte ja "über die Straße" kaufen.
Auch gab es mehrere Ausflugslokale am Waldrand und im Wald, die ähnlich geführt wurden wie die Wirtschaften im Ort. Aber sie waren auch auf Wanderer und Spaziergänger eingerichtet. Die, die heute noch existieren, sind jetzt gehobene Restaurants, die vorwiegend abends geöffnet haben und wo man vorbestellen muss. Die Gäste fahren wie selbstverständlich - meist mit SUVs - über den Wirtschaftsweg oder gleich durch den Wald. Die Spaziergänger müssen deshalb Essen und Getränke selbst mitnehmen und unterwegs noch auf rücksichtslose Autofahrer achten.
Vielen Dank liebe Dagmar, dass Du diese Erinnerung mit uns teilst.
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Mike H. (Samstag, 03 Juni 2023 08:27)
Das Leben hat sich seit den 60ern sehr verändert. Besonders wenn du auf dem Dorf groß geworden bist. Nett geschrieben. Danke für diese Zeitreise.